Intervention, 2022

»Mit dem Stipendium will der Kurator, Designtheoretiker und Schriftsteller helfen, die Gesellschaft zu verändern.«

Stefan Dege, Deutsche Welle

Foto: Nico Kurth

Was würden Sie unterlassen, wenn Sie dafür 5000 Euro bekommen? Das fragte das »Stipendium für Nicht(s)Tun« im Rahmen des Stadt- und Kunstprojektes »Hauptstadt der Folgenlosigkeit« in Heilbronn. Über 200 Leute nahmen teil! Sie gingen der Frage nach, wie ein sinnvolles Leben vor dem Hintergrund von Klimawandel und sozialer Ungleichheit zukünftig aussehen kann - und gründeten schließlich ein »Nicht(s)tun-Kollektiv«.

Nichts Neues kaufen, kein Essen verschwenden, kein Fleisch, dafür kostenloses Mittagessen anbieten: Drei Heilbronner:innen wurden mit dem »Stipendium für Nicht(s)tun« ausgezeichnet. Sie erhalten jeweils 5.000 Euro dafür, drei Monate etwas nicht zu tun und damit negative Folgen für sich und andere zu vermeiden. Das Stipendium ist Herzstück des Kunst- und Stadtentwicklungs-projektes „Hauptstadt der Folgenlosigkeit“, das bis Mai 2023 mit zahlreichen Akteur:innen und Partnerinstitutionen in Heilbronn der Frage nachgeht, wie ein Leben vor dem Hintergrund von Klimawandel und sozialer Ungleichheit zukünftig aussehen
kann.

Basis-Demokratische Gameshow

In einer interaktiven Gameshow hatten sich Angela Manetto, Larissa Sperrfechter und Jonas Kachel am Samstag, 16. Juli 2022, gegen ihre Mitstreiterinnen durchgesetzt. Die zehn Finalistinnen waren zuvor in einem demokratischen Prozess aus über 200 Bewerbungen ausgewählt worden. „Ich bin sprachlos und freue mich sehr“, dankte Larissa Sperrfechter dem Publikum, das in mehreren Abstimmungsrunden die Siegerideen kürte. Die 31 Jahre alte Betreiberin eines Vintage-Shops in Heilbronn will drei Monate lang keine neuen Produkte kaufen und mit dem Stipendium das Angebot ihres Ladens erweitern, der zukünftig auch Raum für Upcycling-Workshops bieten soll.

Die Shortlist

Angela Manetto (41), Leiterin der Jugendherberge Heilbronn, will im dortigen Bistro drei Monate lang jeden Mittwoch auf Fleisch verzichten und dafür regionale Demeter-Produkte anbieten. Darüber hinaus wird die Jugendherberge 44 Essensboxen verteilen, die in der Stadt kursieren sollen und gegen ein Essen am Mittwoch eingetauscht werden können, damit auch Bedürftige eine gesunde Mahlzeit erhalten können. „5.000 Euro reichen für 572 gesunde Mittagessen“, sagt Manetto, die hofft, dass ihre Idee auch von anderen Restaurants und
Institutionen aufgegriffen wird.
Jonas Kachel (29) wiederum stellt 20 Haushalten seine Kenntnisse als Koch zur Verfügung: Aus den Zutaten, die in den jeweiligen Küchen zu finden sind, wird er ein gutes und gesundes Essen kreieren und damit zugleich Lebensmittel vor dem Wegwerfen bewahren. Da es ihn, wie er sagt, nichts koste, seine Fähigkeiten für andere einzusetzen, gibt Kachel das Preisgeld zu gleichen Teilen an drei weitere Bewerber*innen des ‚Stipendium für Nicht(s)tun‘ weiter, die in der letzten Finalrunde ausgeschieden sind. Über jeweils 1.666 Euro freuen dürfen sich Gerit Kopietz-Sommer, die nichts Brauchbares wegwerfen und eine neue Schenk-Kultur etablieren möchte, Marina Murmann, die ein Recycling-System für Zigarettenkippen plant, und Benedikt Supper, der mithilfe von VR-Technologie den Blick für Kinderarbeit bei der Rohstoffgewinnung schärfen will.

Die Endauwahl

Alle Bewerber*innen kamen am Samstag, 15. Oktober 2022, wieder zusammen: Bei einem festlichen Akt wurde die Idee von Jonas Kachel zum Prototypen gewählt. Diesem sollen für die restliche Laufzeit der »Hauptstadt der Folgenlosigkeit« alle folgen, die sich auf ein »Stipendium für Nicht(s)tun« beworben hatten.

Das Nicht(s)tun-Kollektiv

Daraufhin gründete sich das »Nicht(s)tun-Kollektiv« als Zusammenschluss von Bürger:innen, die ihre Talente und Fähigkeiten anderen unentgeltlich zur Verfügung stellen wollen. Drunter ein Krankenpfleger, eine Fotografin, eine Mental-Trainerin, eine Hundetrainerin und eine Kinderpädagogin. Sie folgen der Prototyp-Idee und dem Vorbild des Gewinners des Stipendiums für Nicht(s)-Tun Jonas Kachel.

Zugehörige Projekte

Stadt

Hauptstadt der Folgenlosigkeit

Ein ein-jähriges urbanes Spektakel als Erprobungsversuch in freudvoller Unterlassung

Von Mai 2022 bis April 2023 war Heilbronn »Hauptstadt der Folgenlosigkeit«. Unter der Schirmherrschaft von Oberbürgermeister Harry Mergel organisierte der »Bund der Folgenlosen« mit zahlreichen lokalen Akteur:innen und Institutionen eine Reihe von Ausstellungen, Lesungen, Konzerten, Festen, Performances und Vorträgen, die sich alle um Folgenlosigkeit, Nicht(s)tun und Vermeidung drehten.

Ausstellung

Rechenschaftsbericht

Eine Installation im Kunstverein Heilbronn legt Rechenschaft über die »Hauptstadt der Folgenlosigkeit« ab.

Mit einer mehrteiligen Installation im Kunstverein Heilbronn legen die künstlerischen Leiter der »Hauptstadt der Folgenlosigkeit« – Friedrich von Borries, Tobias Frühauf und Philipp Wolpert – Rechenschaft über Erfolg, Scheitern und Zukunft der urbanen Versuchsanordnung ab. Präsentiert werden Fotografien, Texte, ein Film sowie verschiedene interaktive Stationen, die das zwölfmonatige Projekt künstlerisch reflektieren.

Film

Die Kunst der Folgenlosigkeit

Ein Film über Nachhaltigkeit und die Aufgabe der Kunst in Zeiten der ökologischen Katastrophe.

Was ist Kunst, was kann, soll sie politisch bewirken? »Die Kunst der Folgenlosigkeit« ist ein Film über die Aufgabe der Kunst in Zeiten der ökologischen Katastrophe. Wie wichtig ist Erfolg und was bedeutet es, ein Leben ohne negativen Folgen zu führen? In einer Collage aus fiktionalen und dokumentarischen Szenen entpuppt sich die »Kunst der Folgenlosigkeit« als ein unmögliches, aber dennoch erstrebenswertes Ideal.

Publikation

Fest der Folgenlosigkeit

Ein Roman über Kunst, Selbstüberschätzung und Gewalt – und ein Museum für ökologische Kunst.

Ein Roman über Kunst, Nachhaltigkeit und ein Museum für ökologische Kunst. Selbstüberschätzung trifft auf Lebensangst, Verzweiflung auf Hoffnung, Aktivismus auf Gewalt. Unerwartete Beziehungen entstehen, die im verschwenderischen »Fest der Folgenlosigkeit« ihren explosiven Höhepunkt finden.

Ausstellung

Schule der Folgenlosigkeit (Ausstellung)

Wie sähe ein Leben aus, das – im ökologischen, aber auch im virologischen Sinne – möglichst folgenlos bleibt?

Wie sähe ein Leben aus, das möglichst folgenlos bleibt? Könnte Folgenlosigkeit ein neues regulatives Ideal werden, wie Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit, unerreichbar, aber dennoch erstrebenswert? Welche Auswirkungen hätte ein solches Streben auf die materielle und immaterielle Gestaltung unseres Alltags, auf die Wirtschafts- und Sozialordnung, auf unseren Glauben und auf die Art, wie wir miteinander umgehen?

Intervention

Stipendium für Nichtstun

1600 Euro damit man etwas unterlässt. Das »Stipendium für Nichtstun« war Teil der »Schule der Folgenlosigkeit« und hinterfragte die gängigen Mechanismen des Leistungsdenkens. Es lud dazu ein, über die Verbindung der eigenen Lebenswirklichkeit, der gesellschaftlichen Strukturen und dem Klimawandel nachzudenken. Aus 2864 Bewerbungen aus 70 Ländern wurden drei Gewinner:innen wurden ausgewählt.